Dienstag, 5. März 2024

Die Virgin-Jahre, Teil 5: ENCORE (1977)

Live-Doppel-LP auf Basis einer ausverkauften US-Tournee. Die Platte zeigt, warum die Band damals von der Welt umfangen und warum ihre Tourneen ausverkauft waren. Die Platte ist lang, die Stücke sind lang, dennoch spielt sich auf engem Raum sehr viel ab: nämlich eine Verzahnung von verkanteter Neuer Musik (die vor allem für Amerikaner vermutlich hochexotisch war), Bach- und Beethoven-hafter Klassik und psychedelischem Rock. Die Kollision solch unterschiedlicher Aggregatzustände, ja Seinszustände, das unmittelbare Aufeinandertreffen von Gefälligem und Verdrehtem, von schierer Lautstärke und feiner, rhythmisierter Stille – das erzeugt diese typische Atmosphäre des Überweltlichen, des Erhabenen, aber auch Gefährlichen. Man möchte sich reinlegen – um im nächsten Moment panisch aufspringen und wegrennen zu wollen. Nie gab es tiefere Tiefen und höhere Höhen. Als hätte Johann Sebastian Bach sich mit nacktem Komponistenhintern auf einen Elektroschocker gesetzt und Spaß dran gefunden.

Der Einstieg „Cherokee Lane“ beginnt mit Space-Gewusche und Triebwerksgeräuschen, ehe ein Georgel einsetzt, das man am ehesten beschreiben kann mit „J.S. Bach spielt den Soundtrack eines alten Universal-Horrorfilms nach“. Dann startet das Kernstück mit einem hellen, xylophonhaften Sequencer. Als etwas später der zweite Sequencer dazustößt – der tiefe, bassige –, hört man das Publikum kurz johlen und quieken, so heftig fährt den Leuten das Ding in den Magen. Über Kopfhörer stemmt es einem auch heute noch das Trommelfell beträchtlich nach innen. Tangerine Dream waren berüchtigt für ihre Lautstärke, sozusagen die Manowar ihrer Epoche. Deswegen gingen die Leute ja hin: um das Oberstübchen aufzuschließen und den Sturm reinzulassen. Der fing, das wussten die Fans, gerne als Windhauch an und drehte einem dann unversehens das Denkgewebe auf links. Es heißt, auf Publikumsaufnahmen und Bootlegs dieser US-Tournee habe es eine viel krassere Phonstärke gegeben und viel heftigere Dynamiken als auf „Encore“ dokumentiert. Noch heftiger?

Auf „Cherokee Lane“ jedenfalls gibt es diese Passage um die Mitte herum, in der das Universum zu sich selbst findet und alles in perfekter Dynamik und Harmonie umeinander spielt, ehe es unvermittelt in etwas Gefährliches umbricht, in die „Betrayal“-Passage vom „Sorcerer“-Soundtrack nämlich, die damals ganz neu war und vermutlich noch nicht bekannt, weil die Filmmusik erst später im Jahr in den Plattenläden auslag. „Coldwater Canyon“ hingegen, mit dem längsten je dokumentierten Gitarrensolo von Edgar Froese, ist so etwas wie ein Marathonlauf, inklusive aller körperlichen Zustände, die damit einhergehen: Euphorie, Erschöpfung, Monotonie, Nervosität, Leichtigkeit und Schmerz.